• Es sind wieder ein paar schöne Fotobeiträge eingetrudelt. Schau sie dir doch einmal hier an und stimme für deinen Favoriten.

Das Gefühl, von einem anderen Stern zu kommen

Kallin
Benutzer199610  Ist noch neu hier
  • #1
Bevor sich jemand die Mühe macht, diese Textwand zu lesen: ja, ich weiß, dass das ein Thema für die Therapie wäre und ich bin da auch schon dran.

____________________________

Ich bin 20 und habe seit sieben Jahren psychische Probleme. Als Kind war ich, soweit ich das einschätzen kann, unauffällig. Ich hing eventuell sozial etwas zurück, weil ich nicht in den Kindergarten gegangen bin und deshalb erst ab der Grundschule regelmäßigen Kontakt zu Gleichaltrigen hatte. Während der Grundschulzeit war aber noch alles normal.
Die Probleme finden langsam an nachdem wir umgezogen sind als ich in der 5. Klasse war. Was genau das Problem war, weiß ich nicht, aber auf der neuen Schule fiel es mir schwerer als auf der alten, Anschluss zu finden.
Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich nichts richtig machen konnte. Egal, was ich gemacht habe, es gab immer etwas zu kritisieren oder zu lachen. Daraus entstand dann Unsicherheit und eine Abwehrhaltung. Wenn ich es niemandem recht machen kann, kann ich es auch gleich bleiben lassen. Ich war in dem Alter auch nicht sehr sozial. Ich hatte Freunde, musste die aber nicht jeden Tag sehen und habe gerne Zeit allein verbracht und gelesen und gezockt. Meine Mutter fand das ok, aber mein Vater hat oft Stress gemacht, dass ich raus gehen soll.
Ich erinnere mich an keinen konkreten Auslöser, kann nur sagen, dass mit 13 die richtigen Probleme anfingen. War vielleicht einfach pubertätsbedingt und hatte nichts mit den Umständen zu tun. Ich habe einfach aufgehört, normal zu fühlen und habe statt verschiedener Emotionen nur noch Leere gefühlt. Und diese Leere ist bis heute nicht vollständig weg gegangen.
Ich habe dann angefangen, mich selbst zu verletzen. Nie extrem, immer nur oberflächlich, sodass ich keine total auffälligen Narben habe.
Man hört immer, wer das macht, tut es aus Selbsthass oder um sich selbst zu bestrafen. Ich glaube, ich habe es getan, weil ich so etwas fühlen kann, das ich verstehe. Körperlicher Schmerz ist einfach und logisch.
Ich habe dann noch andere Probleme entwickelt, die etwas schwer zu erklären sind. Intuitiv würde ich es als Halluzinationen oder Wahnvorstellungen bezeichnen, aber es waren wohl keine, da man bei solchen normalerweise nicht weiß, dass es nicht real ist. Ich wusste das aber immer. Konkret geäußert hat es sich so, dass ich dachte, die Anwesenheit einer anderen Person zu spüren, eines zweiten Ichs, das oft mit mir im Zimmer war. Es war als würde eine zweite Version in einer anderen Dimension existieren und die Verbindung zwischen den Dimensionen wäre an manchen Stellen (= in meinem Zimmer) so dünn, dass ich dieses andere Ich spüren und schemenhaft wahrnehmen, fast sehen konnte. Ich wusste, dass da nicht wirklich jemand ist, habe nicht gesehen, wie er aussieht, hätte aber sein Aussehen genau beschreiben können. Ich wusste einfach intuitiv, wie er aussieht und andere Details wie seinen Namen. Nicht "Ich entscheide, dieser Gestalt diesen Namen zu geben", sonden "Ich kenne intuitiv seinen Namen".
Zeitweise habe ich halb erst versucht, mit ihm zu kommunizieren. Ich war mir sehr sicher, dass es keine Parallelwelten gibt (oder zumindest, dass wir diese nicht wahrnehmen können falls es sie doch gibt), aber manchmal war ich mir nicht sicher. Halluzinationen waren es daher wohl nicht, sondern einfach meine überaktive Phantasie.
Mit 16/17 habe ich einen emotionalen Tiefpunkt erreicht. Weil der Versuch, aktiv etwas zu ändern, eine Krise ausgelöst hat. Ich hatte zu dem Zeitpunkt das Gefühl, kein Selbstbewusstsein zu haben. Damit meine ich nicht Selbstwertgefühl. Ich meine das Bewusstsein darüber, wer man selbst ist. Deshalb habe ich dann ein Bild von mir erschaffen, eine Idealvorstellung, wie ich gerne wäre. Ich habe sozusagen eine Rolle gespielt und immer überlegt, was diese Person tun würde und habe das dann getan. Es ist schwer zu erklären. Ich wusste nicht, wer ich bin und was ich fühle oder möchte. Also habe ich mich eher in die Position eines Schauspielers begeben, der sein eigenes Skript schreibt. Ich habe einen Charakter erschaffen, der meinen Platz einnehmen sollte und habe überlegt, wie die Persönlichkeit dieser Person wäre und habe immer das getan, was diese Person meiner Vorstellung nach getan hätte. Ich habe Trauer gespielt, wenn ich dachte, dass diese Person Trauer empfinden würde. Wut, Freude, wenn ich dachte, in der Situation würde diese Person das fühlen. Das hatte nur fast nie etwas damit zu tun, was ich gefühlt habe. Das war nämlich meistens: nichts.
Ein paar Monate lang hat das funktioniert bis ich mich selbst der Tatsache stellen musste, dass ich eine Lüge lebe und anderen etwas vorspiele. So wurde mir wieder klar, dass es mich im Grunde nicht gibt.
Versuche, mich jemandem anzuvertrauen, haben nicht funktioniert. Die, die mir zugehört haben, haben es trotz aller Bemühungen nicht verstanden. Ich war irgendwann so am Ende, dass ich mich meiner Mutter anvertraut habe und ihr gesagt habe, dass ich denke, ich brauche professionelle Hilfe. Sie hat es ignoriert und so getan als hätte das Gespräch nie stattgefunden.
Nach dem Abi vor drei Jahren bin ich ausgezogen und habe mir selbst Hilfe gesucht. Von Juni 2021 bis September 2022 war ich in Therapie. In der Zeit ging es mir auch besser, aber ich war dann so dumm, nicht mehr hinzugehen, weil ich dachte, ich bräuchte das jetzt nicht mehr. Seit einem Monat bin ich wieder in einem depressiven Loch und mir ist jetzt klar, dass diese Unterstützung bei der Alltagsbewältigung zwar hilfreich ist, ich aber tiefer gehen muss. Ich will jetzt so bald es geht mit der Therapie wieder anfangen und das angehen.
Ich will einfach mehr als im Alltag zurechtzukommen. Ich will normal sein oder wenigstens verstehen, was mit mir nicht stimmt. Ich habe mich selbst mit allen möglichen psychiatrischen Krankheitsbildern auseinander gesetzt, konnte mich aber nirgendwo wiederfinden. Auch habe ich das Gefühl, dass das bei mir angeboren oder körperlich bedingt ist, also keine Folge von einer Traumatisierung.
Ich hatte den Gedanken, dass ich vielleicht autistisch sein könnte. Aber sämtliche Onlinetests sagen aus, dass kaum Anzeichen für Autismus vorhanden sind. Ein Onlinetest ersetzt keinen Arzt, klar. Aber Ärzte arbeiten auch anhand von Diagnosekriterien und würde wahrscheinlich die gleichen Fragen stellen wie diese Tests. Wenn das Ergebnis grenzwertig wäre, ok. Aber wenn ich 50 Fragen wahrheitsgemäß beantworte und das Ergebnis ist, dass ich kaum Anzeichen für Autismus habe, ist es sicher nicht wahrscheinlich, dass ich es doch habe.
Aber was dann? Schlimmer noch als die Symptome ist die absolute Ungewissheit, was genau ich habe. Ich würde mich besser fühlen wenn ich ein Wort hätte, weil ich so das Gefühl habe, dass niemand außer mir dieses Problem hat und dass ich es nicht gut genug erklären kann, dass man es richtig behandeln könnte. Es würde alles leichter machen, wenn ich eine richtige Diagnose hätte, für die es ein Behandlungskonzept gibt.
So fühle ich mich als käme ich von einem anderen Stern und kann niemandem erklären, was mit mir nicht stimmt.
 
U
Benutzer177622  Meistens hier zu finden
  • #2
Mit welchen Ärzten hast du denn schon ein Diagnose versucht?
 
Kallin
Benutzer199610  Ist noch neu hier
  • Themenstarter
  • #3
Mit welchen Ärzten hast du denn schon ein Diagnose versucht?
Ich war bei zwei Psychiatern. Ausgesprochen wurde nichts, aber in den Unterlagen stand rezidivierende Depression, mittelschwere Episode, und Persönlichkeitsstörung.
Ich hatte das Gefühl, dass das eher Verlegenheitsdiagnosen waren und die Gespräche gar nicht lang genug waren, um wirklich zu einer akkuraten Einschätzung zu kommen. Also wurde einfach etwas möglichst allgemeines aufgeschrieben.
 
R
Benutzer193222  (39) Öfter im Forum
  • #4
Meine erste Intention beim Lesen war tatsächlich auch Autismus. Es gibt da ja ein Spektrum und nicht nur allgemeine Eigenschaften.
Ist es denn immer noch so, dass du nichts empfindest?
 
Fantasy.
Benutzer172046  Beiträge füllen Bücher
  • #5
Mal ganz ab vom Thema dieses Threads: du hast jetzt so viele Threads eröffnet und allein die "Masse" an Themen, die du da ansprichst, ist vielleicht nicht traumatisierend, aber ganz sicher belastend.
Ich würde dir dazu raten, das nochmal sortiert durchzugehen. Schau, wo du die hilfreichsten Beiträge erhalten hast, was sich am einfachsten umsetzen lässt, und nimm dir dann eine Sache vor, an der du arbeitest. Du kannst die Priorisierung dann vielleicht auch in der Therapie nochmal besprechen.
Aber wenn du jetzt alles gleichzeitig angehen möchtest, ist klar, dass du nirgends weiterkommst und irgendwann super frustriert bist.
So viel dazu.
__________________________________
Um zum Thema zu kommen: Meine Bezeichnung für mich ist/war ein "kleines, grünes, unverstandenes Hintermmondmännchen". Klein, weil weder mein Körper noch mein Charakter allzu groß geraten sind, grün, weil ich jung und grün hinter den Ohren bin und Hintermmondmännchen, weil man damit je nach Perspektive einen Menschen oder Alien meinen kann.
Bist du also allein damit, dir wie ein Alien vorzukommen? Ich würde mal ganz stark nein behaupten. Dafür brauchst du keine Diagnosen.

Was jetzt kommt, ist sehr laienhaft und dient nur als Beispiel:
Das Gefühl, seinen Körper zu verlassen, irgendwie "neben sich" zu stehen, nennt man glaube ich Dissoziation. Wenn ich ganz genau in den Spiegel sehe, passiert etwas, das ähnlich klingt zu dem, was du beschreibst, auch wenn es überhaupt nicht gleich ist. Ich glaube, unabhängig davon, wie man es nennt und wie genau es sich äußert, ist das Phänomen an sich auch nicht gerade unbekannt. Es erinnert mich etwas an den Internet-Witz der Freundin, die zum Psychiater geht, weil sie immer Stimmen im Kopf hört, bis sich herausstellt, dass es einfach nur ihre eigenen Gedanken sind. Vieles stellen wir uns bedeutsamer vor, als es am Ende vielleicht ist.

Das Selbst aufzusplitten ist übrigens etwas, das man je nach Therapieform sowieso macht, insbesondere in der Schematherapie, wo man mit Anteilen arbeitet und sich die vorstellt. Und da gibt es eben auch den Anteil, der emotional gesund ist, und auch den kann man sich vorstellen und an dem kann man sich abgucken, wie man sich verhalten sollte/möchte.
Du machst also vermutlich einfach nur intuitiv etwas, das man in der Therapie deutlich zielgerichteter und strukturierter ausführt, und weil es bei dir eben rein intuitiv war, hat es - langfristig - nicht geholfen.

Auch das Gefühl, dass man in Wahrheit gar nicht existiert, ist nichts, mit dem du allein dastehst. Und auch da gibt es Methoden, wie man diese Perspektive ändern kann.

Wenn du sowieso recherchierst, warum immer nur Krankheitsbilder? Was weißt du allgemein über die menschliche Psyche, über Sozialisationsprozesse, über Identität und Emotion und Empfinden und Persönlichkeit?

Es gab zum Beispiel eine Sozialisationstheorie - die ist inzwischen sicher veraltet, aber vermutlich nicht komplett falsch - die das Leben in verschiedene Phasen einteilt. Du hast also im Laufe deines Lebens verschiedene soziale Herausforderungen, die du meistern musst, die meisten davon in der Pubertät, weil man da eben anfängt, herauszufinden, wer man ist, wie man sein möchte etc..
Wenn man aber diese Herausforderungen einfach nicht schafft - aus welchem Grund auch immer, da gibt es etliche - dann reagiert man mit Aggression oder Auto-Aggression (Selbstverletzung).
Und wenn du jetzt sagst, dass dir die Ressourcen zur Bewältigung dieser Herausforderungen gefehlt haben, weil du wenig soziale Kontakte hattest, weil du wenig Bindung zu deinen Eltern hattest, such dir was aus, du wirst genug Dinge finden, die dir gefehlt haben... dann ist klar, dass das Ergebnis ist, dass bestimmte Dinge nicht so funktionieren, wie sie es sollten, und du entsprechend reagierst.

Ob diese These stimmt oder nicht, sei mal dahingestellt, ich habe das vor gut 8 Jahren in der Schule gelernt und schon da war das Modell mehrere Jahrzehnte alt und deutlich komplexer, als man es uns beigebracht hat (und als ich es noch wiedergeben kann). Aber: du brauchst keine Diagnosen, um eine Erklärung zu haben, du brauchst keine Diagnosen, um Dinge in Worte fassen zu können, du brauchst keine Diagnosen, um zu wissen, dass du nicht alleine mit deiner Wahrnehmung bist.
Ein absolut grundlegendes Verständnis davon, wie das Gehirn funktioniert und warum man sich darauf nicht verlassen kann, wie Menschen und soziale Kontakte und Kommunikation funktionieren, reicht vollkommen aus. Dann merkt man nämlich ganz schnell, dass Menschen, so individuell sie auch sind, in den Grundzügen alle irgendwo gleich sind.

Sich selbst als "besser" oder "anders" oder "nicht normal" darzustellen ist nämlich meist einfach nur ein Bewältigungsmechanismus, den man Überkompensation nennt. Edit: Neurodiverse Menschen kommen sich natürlich oft auch anders vor, da hat das dann schon andere Gründe.

Off-Topic:
Persönlichkeitsstörungen werden inzwischen übrigens meines Wissens nach auch als Interaktionsstörungen bezeichnet, die haben dann noch verschiedene Unterkategorien und mit denen kann man dann schon sehr gut arbeiten. Ist aber halt keine seltene Diagnose, weil man Interaktion eben nachlernen muss, wenn man die Chance in der Kindheit nicht oder nur ungenügend hatte.

Versuche "einfach", dich mal zu sortieren, wenn du das dringende Bedürfnis hast, in Eigenregie schon vor Therapiestart etwas zu tun. Fasse deine Erlebnisse möglichst einfach zusammen (eine Lebenslinie ist da z.B. ganz hilfreich), dann siehst du auch ohne Diagnosen, was du schon alles durch hast. Und dann versuch einmal, zu priorisieren, was du zuerst angehen möchtest. Ich denke, damit bist du schon ganz gut beschäftigt. Alles andere kannst du dann in der Therapie erarbeiten.
 
U
Benutzer177622  Meistens hier zu finden
  • #6
Ich denke irgendwie an Dissoziation.
Hat dir einer der Ärzte etwas dazu erzählt?
 
J
Benutzer186595  Öfter im Forum
  • #7
Die Diagnosen sind ziemlich allgemein, können ja aber trotzdem stimmen. Nur erklären sie nicht deine besonderen Wahrnehmungen. Dafür wäre wohl noch eine genauere Diagnostik notwendig. Frag doch Mal deinen Therapeuten danach. Bist du parallel noch in ärztlicher Behandlung? Würde ich empfehlen.
Nachdenklich macht mich der Bruch in deinem emotionalen Erleben mit 13. Für mich klingt es, als ob es eine sehr schwere Zeit war, mit deinen Mitschülern, aber auch mit deinen Eltern, so dass du die Gefühle nicht aushalten könntest und sie quasi so weit verdrängt hast, das du irgendwann gar nichts mehr gespürt und den Kontakt zu den Gefühlen komplett verloren hast.
 
Kallin
Benutzer199610  Ist noch neu hier
  • Themenstarter
  • #8
Meine erste Intention beim Lesen war tatsächlich auch Autismus. Es gibt da ja ein Spektrum und nicht nur allgemeine Eigenschaften.
Ist es denn immer noch so, dass du nichts empfindest?
Ich weiß es nicht wirklich. Ich fühle schon irgendetwas, aber keine konkreten Emotionen. Eher Dinge wie Frustration, Anspannung, Erregung. Ich reagiere auch emotional, bin also kein starrer Roboter. Ich weiß nur nicht, ob meine Reaktionen echt sind oder antrainiert (wenn jemand etwas Negatives erzählt, schaut man betroffen; wenn jemand verunsichert ist, sagt man was nettes; wenn jemand etwas für einen getan hat, schenkt man was, usw.)

Mal ganz ab vom Thema dieses Threads: du hast jetzt so viele Threads eröffnet und allein die "Masse" an Themen, die du da ansprichst, ist vielleicht nicht traumatisierend, aber ganz sicher belastend.
Ich würde dir dazu raten, das nochmal sortiert durchzugehen. Schau, wo du die hilfreichsten Beiträge erhalten hast, was sich am einfachsten umsetzen lässt, und nimm dir dann eine Sache vor, an der du arbeitest. Du kannst die Priorisierung dann vielleicht auch in der Therapie nochmal besprechen.
Aber wenn du jetzt alles gleichzeitig angehen möchtest, ist klar, dass du nirgends weiterkommst und irgendwann super frustriert bist.
So viel dazu.
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Um zum Thema zu kommen: Meine Bezeichnung für mich ist/war ein "kleines, grünes, unverstandenes Hintermmondmännchen". Klein, weil weder mein Körper noch mein Charakter allzu groß geraten sind, grün, weil ich jung und grün hinter den Ohren bin und Hintermmondmännchen, weil man damit je nach Perspektive einen Menschen oder Alien meinen kann.
Bist du also allein damit, dir wie ein Alien vorzukommen? Ich würde mal ganz stark nein behaupten. Dafür brauchst du keine Diagnosen.

Was jetzt kommt, ist sehr laienhaft und dient nur als Beispiel:
Das Gefühl, seinen Körper zu verlassen, irgendwie "neben sich" zu stehen, nennt man glaube ich Dissoziation. Wenn ich ganz genau in den Spiegel sehe, passiert etwas, das ähnlich klingt zu dem, was du beschreibst, auch wenn es überhaupt nicht gleich ist. Ich glaube, unabhängig davon, wie man es nennt und wie genau es sich äußert, ist das Phänomen an sich auch nicht gerade unbekannt. Es erinnert mich etwas an den Internet-Witz der Freundin, die zum Psychiater geht, weil sie immer Stimmen im Kopf hört, bis sich herausstellt, dass es einfach nur ihre eigenen Gedanken sind. Vieles stellen wir uns bedeutsamer vor, als es am Ende vielleicht ist.

Das Selbst aufzusplitten ist übrigens etwas, das man je nach Therapieform sowieso macht, insbesondere in der Schematherapie, wo man mit Anteilen arbeitet und sich die vorstellt. Und da gibt es eben auch den Anteil, der emotional gesund ist, und auch den kann man sich vorstellen und an dem kann man sich abgucken, wie man sich verhalten sollte/möchte.
Du machst also vermutlich einfach nur intuitiv etwas, das man in der Therapie deutlich zielgerichteter und strukturierter ausführt, und weil es bei dir eben rein intuitiv war, hat es - langfristig - nicht geholfen.

Auch das Gefühl, dass man in Wahrheit gar nicht existiert, ist nichts, mit dem du allein dastehst. Und auch da gibt es Methoden, wie man diese Perspektive ändern kann.

Wenn du sowieso recherchierst, warum immer nur Krankheitsbilder? Was weißt du allgemein über die menschliche Psyche, über Sozialisationsprozesse, über Identität und Emotion und Empfinden und Persönlichkeit?

Es gab zum Beispiel eine Sozialisationstheorie - die ist inzwischen sicher veraltet, aber vermutlich nicht komplett falsch - die das Leben in verschiedene Phasen einteilt. Du hast also im Laufe deines Lebens verschiedene soziale Herausforderungen, die du meistern musst, die meisten davon in der Pubertät, weil man da eben anfängt, herauszufinden, wer man ist, wie man sein möchte etc..
Wenn man aber diese Herausforderungen einfach nicht schafft - aus welchem Grund auch immer, da gibt es etliche - dann reagiert man mit Aggression oder Auto-Aggression (Selbstverletzung).
Und wenn du jetzt sagst, dass dir die Ressourcen zur Bewältigung dieser Herausforderungen gefehlt haben, weil du wenig soziale Kontakte hattest, weil du wenig Bindung zu deinen Eltern hattest, such dir was aus, du wirst genug Dinge finden, die dir gefehlt haben... dann ist klar, dass das Ergebnis ist, dass bestimmte Dinge nicht so funktionieren, wie sie es sollten, und du entsprechend reagierst.

Ob diese These stimmt oder nicht, sei mal dahingestellt, ich habe das vor gut 8 Jahren in der Schule gelernt und schon da war das Modell mehrere Jahrzehnte alt und deutlich komplexer, als man es uns beigebracht hat (und als ich es noch wiedergeben kann). Aber: du brauchst keine Diagnosen, um eine Erklärung zu haben, du brauchst keine Diagnosen, um Dinge in Worte fassen zu können, du brauchst keine Diagnosen, um zu wissen, dass du nicht alleine mit deiner Wahrnehmung bist.
Ein absolut grundlegendes Verständnis davon, wie das Gehirn funktioniert und warum man sich darauf nicht verlassen kann, wie Menschen und soziale Kontakte und Kommunikation funktionieren, reicht vollkommen aus. Dann merkt man nämlich ganz schnell, dass Menschen, so individuell sie auch sind, in den Grundzügen alle irgendwo gleich sind.

Sich selbst als "besser" oder "anders" oder "nicht normal" darzustellen ist nämlich meist einfach nur ein Bewältigungsmechanismus, den man Überkompensation nennt. Edit: Neurodiverse Menschen kommen sich natürlich oft auch anders vor, da hat das dann schon andere Gründe.

Off-Topic:
Persönlichkeitsstörungen werden inzwischen übrigens meines Wissens nach auch als Interaktionsstörungen bezeichnet, die haben dann noch verschiedene Unterkategorien und mit denen kann man dann schon sehr gut arbeiten. Ist aber halt keine seltene Diagnose, weil man Interaktion eben nachlernen muss, wenn man die Chance in der Kindheit nicht oder nur ungenügend hatte.

Versuche "einfach", dich mal zu sortieren, wenn du das dringende Bedürfnis hast, in Eigenregie schon vor Therapiestart etwas zu tun. Fasse deine Erlebnisse möglichst einfach zusammen (eine Lebenslinie ist da z.B. ganz hilfreich), dann siehst du auch ohne Diagnosen, was du schon alles durch hast. Und dann versuch einmal, zu priorisieren, was du zuerst angehen möchtest. Ich denke, damit bist du schon ganz gut beschäftigt. Alles andere kannst du dann in der Therapie erarbeiten.
Ich finde das sehr klug und sinnvoll, was du schreibst, aber ganz ehrlich überfordert es mich im Moment. Ich glaube, im Augenblick will ich gar nicht aktiv etwas tun, an etwas arbeiten. Nur irgendwie drüber reden will ich. Weil es nicht gut ist, wenn ich mit meinen Gedanken alleine bin, weil ich dann destruktiven Mist mache. Deshalb brauche ich die Interaktion im Moment, um irgendwie in der Spur zu bleiben.
Ich glaube, das mit therapeutischer Hilfe durchzuarbeiten wäre gut, aber mich alleine damit im Detail auseindersetzen wäre zu viel.
Das mit den Phasen kommt mir allerdings bekannt vor. Ist das Erikson? Den hab ich sogar im Regal stehen.

Ich denke irgendwie an Dissoziation.
Hat dir einer der Ärzte etwas dazu erzählt?
Nein, aber ich finde das schon passend. Dissoziation, Depersonalisation, irgendwie sowas. Aber so lange und ohne vorangehendes Trauma ist schon komisch.

Die Diagnosen sind ziemlich allgemein, können ja aber trotzdem stimmen. Nur erklären sie nicht deine besonderen Wahrnehmungen. Dafür wäre wohl noch eine genauere Diagnostik notwendig. Frag doch Mal deinen Therapeuten danach. Bist du parallel noch in ärztlicher Behandlung? Würde ich empfehlen.
Nachdenklich macht mich der Bruch in deinem emotionalen Erleben mit 13. Für mich klingt es, als ob es eine sehr schwere Zeit war, mit deinen Mitschülern, aber auch mit deinen Eltern, so dass du die Gefühle nicht aushalten könntest und sie quasi so weit verdrängt hast, das du irgendwann gar nichts mehr gespürt und den Kontakt zu den Gefühlen komplett verloren hast.
Ich habe einen guten Hausarzt, zu dem ich ab und zu gehe, und alle paar Monate zum Psychiater wegen AD.
Eigentlich war die Zeit mit 13 nicht so schlimm. Ich kann mich nicht erinnern, groß gelitten zu haben. Ich habe mich nur komisch gefühlt. Ich weiß noch, wann ich das zum ersten Mal so richtig krass gemerkt habe. Ich war mit einem Freund und dessen Familie im Urlaub und ich saß bei denen im Ferienhaus alleine im Dachzimmer und bin irgendeinen CD-Stapel durchgegangen. Und dann war da einfach dieses Gefühl da, dass ich eigentlich nicht wirklich da bin, das alles unwirklich ist. Juli 2015.
Es ist in dem Urlaub nichts ungewöhnliches passiert und in der Zeit davor auch nicht. Aber ab da war ich irgendwie "weg".
 
Fantasy.
Benutzer172046  Beiträge füllen Bücher
  • #10
Weil es nicht gut ist, wenn ich mit meinen Gedanken alleine bin, weil ich dann destruktiven Mist mache.
Ohne dir das Bedürfnis nach Austausch und Interaktion absprechen zu wollen... in dem Moment, wo man merkt, dass die eigenen Gedanken einem schaden, ist es immer besser, etwas aktiv zu tun. Ob das jetzt eine bewusste Auseinandersetzung damit, ein Post im Forum oder irgendetwas anderes wie ein Spaziergang ist, ist ja letztendlich egal.
Ich wollte an der Stelle nur den Hinweis dalassen, dass man seine Gedanken auch anders in den Griff bekommen kann, falls du irgendwann mal eine Alternative suchen oder brauchen solltest.

Ich glaube, es war Hurrelmann, kann es dir gerade aber auch nicht sicher sagen.

Aber so lange und ohne vorangehendes Trauma ist schon komisch.
Wieso? Es gibt ja auch Personen, die genetisch prädisponiert sind und dann, wenn sie nicht das Glück haben, passende Ressourcen zu erhalten, eben psychische Probleme entwickeln. Ob du die Glasknochenkrankheit hast und dich einmal doof gestoßen hast, oder ob dir jemand mit dem Hammer auf den Arm haut, ist nicht so wichtig, der gebrochene Arm muss so oder so erstmal behandelt werden.
Letztendlich sind auch unsere Gedanken und Gefühle einfach nur Hirnchemie, einfach Biologie. Da gibt es weit mehr als nur eine einzige Möglichkeit, warum das System nicht so gut funktioniert.
Letztendlich hat doch jeder Mensch irgendwelche Macken. Ob man psychische Macken hat ist aber ja nicht das, was einen am Ende zum Therapeuten bringt, sondern der Leidensdruck (und die Fähigkeit, Hilfe zu suchen).
 
Kallin
Benutzer199610  Ist noch neu hier
  • Themenstarter
  • #11
Ich weiß im Moment nicht, wie ich das bis zur Therapie aushalten soll. Es ist komisch, weil ich irgendwie weiß, dass es mir schlecht geht, obwohl ich es nicht spüre. Hauptsächlich merke ich es daran, dass ich mich verletzen will. Den Gedanken hat man wohl eher nicht wenn es einem gut geht. Ich weiß auch nicht, warum ich hier schreibe. Was soll mir auch jemand sagen?
Mir geht es nicht gut. Warum? Keine Ahnung. Was würde mir helfen? Keine Ahnung. Ich habe dieses Kribbeln unter der Haut, in meinen Nerven, wie ein Jucken, das man nicht wegkratzen kann, weil es zu tief sitzt. Ständig dieses komische Flimmern vor den Augen.
Ich habe nicht nichts gemacht heute. Ich war vier Stunden arbeiten, habe Sport gemacht, mit Freunden geredet. Was helfen würde wäre mich zu verletzen. Aber wenn ich es jetzt mache, dann ist Hemmschwelle niedriger und dann bleibt es nicht bei einem Mal.
 
Fantasy.
Benutzer172046  Beiträge füllen Bücher
  • #12
Kennst du schon die gängigen Notfalltipps für solche Situationen?
Ein Gummiband gegen die Haut schnippen, etwas Kaltes essen oder anfassen, etwas sehr Scharfes essen, die Haut mit rotem Filzstift anmalen (Tattoomarker wären noch besser, weil die hautfreundlicher sind), Tagebuch schreiben, Bewegung, jemanden anrufen (im Notfall die Telefonseelsorge), Meditation, spazieren gehen...
Da gibt es jede Menge Dinge, die helfen können.
Abends verstärken sich viele psychische Krankheiten noch, im schlimmsten Fall geht man also einfach schlafen.

Wenn ich nicht weiß, warum es mir nicht gut geht, kann ich das manchmal von meinen Gedanken ableiten.
Gibt es etwas, an das du gedacht hast, bevor du dir wehtun wolltest? Was hast du gemacht, bevor es schlimmer wurde?
 
Kallin
Benutzer199610  Ist noch neu hier
  • Themenstarter
  • #13
Kennst du schon die gängigen Notfalltipps für solche Situationen?
Ein Gummiband gegen die Haut schnippen, etwas Kaltes essen oder anfassen, etwas sehr Scharfes essen, die Haut mit rotem Filzstift anmalen (Tattoomarker wären noch besser, weil die hautfreundlicher sind), Tagebuch schreiben, Bewegung, jemanden anrufen (im Notfall die Telefonseelsorge), Meditation, spazieren gehen...
Da gibt es jede Menge Dinge, die helfen können.
Abends verstärken sich viele psychische Krankheiten noch, im schlimmsten Fall geht man also einfach schlafen.

Wenn ich nicht weiß, warum es mir nicht gut geht, kann ich das manchmal von meinen Gedanken ableiten.
Gibt es etwas, an das du gedacht hast, bevor du dir wehtun wolltest? Was hast du gemacht, bevor es schlimmer wurde?
Ich kenne die "Skills", aber das hilft bei mir alles kaum. Manches hilft kurze Zeit, aber sobald ich damit aufhöre, ist das Bedürfnis mich zu ritzen wieder da.
Ich kann mich zum Beispiel ablenken indem ich Eiswürfel in der Hand halte. Irgendwann sind die geschmolzen und das Gefühl ist wieder genau so stark wie vorher.
Das Gefühl ist schon länger wieder da und wird tendenziell stärker. Also da ist gestern nichts besonderes passiert oder so.
Mir ging es ein paar Monate lang eigentlich "gut", ich hatte sowas wie einen Plan und habe es geschafft, meinen Tag ganz gut zu füllen. Dann hat ein Freund etwas gesagt, womit ich nicht klar gekommen bin. Das war vor einem Monat. Seitdem geht es mir schlecht. Ich bin die ganze Zeit so unterschwellig aggressiv, mir selbst gegenüber.
Vielleicht ist es ganz einfach und hat am Ende gar nicht viel mit "fühlen wollen" zu tun. Wenn andere mich verletzen, habe ich das Bedürfnis mich selbst zu verletzen. Es klingt vielleicht nicht logisch, aber das gibt mir die Kontrolle zurück. Es fühlt sich logischer and als es klingt.
 
Kallin
Benutzer199610  Ist noch neu hier
  • Themenstarter
  • #14
Ich glaube, für mich gibt es keine gute Alternative zum Ritzen. Ich habe heute nochmal darüber nachgedacht, in was für Situationen ich das normalerweise mache und musste an die letzte Situation denken.
Mein Vater feiert seinen Geburtstag immer am folgenden Wochenende oder dem darauf. Letztes Jahr habe ich dann ca. einen Monat vorher gesagt, dass ich direkt an seinem Geburtstag (Samstag) schon Pläne habe und da nicht kann. Einen Tag vor seinem Geburtstag schrieb dann meine Schwester, ob sie mich mitnehmen soll oder ob ich erst Samstag kommen würde und ich hab geantwortet, dass ich wie gesagt schon etwas vorhabe und erst Samstag irgendwann nachmittags dazukommen kann. Wie geplant bin ich dann später dazu gekommen und hatte während der Feier schon die ganze Zeit das Gefühl, dass meine Mutter mich komisch ansieht und auf alles, was ich gesagt habe, auffällig kühl reagiert hat. Ich konnte aber nicht zuordnen, warum.
Sonntags bin ich dann abends nach Hause gekommen und bekam so ca. eine Stunde später eine Sprachnachricht von meiner Mutter, wo sie mir gesagt hat, dass sie wütend auf mich sei, weil ich andere Pläne gemacht hatte obwohl mein Vater Geburtstag hatte und ich das nicht vorher gesagt hätte (stimmt wie gesagt nicht) und weil ich meine Sachen habe liegen lassen und ob ich denke, sie hätte Lust, hinter mir her zu räumen.
Das mit dem Geburtstag war meiner Meinung nach nicht mein Fehler, weil ich vorher extra Bescheid gegeben habe und mein Vater anders hätte planen können, wenn er unbedingt wollte, dass ich dabei bin. (Das, weshalb ich nicht konnte, war auch nichts, was ich einfach wann anders hätte machen können.) Es ist ja jetzt nicht meine Schuld, wenn mir niemand zuhört. Wegen der vergessenen Sachen jedenfalls habe ich mich schlecht gefühlt. Ich hatte meine Sportsachen im Gästezimmer liegen lassen, ich hatte die in die Wäsche tun wollen bevor ich fahre und hatte es dann einfach verplant. Das tat mir leid, weil es unhöflich und egoistisch ist, sowas zu vergessen und zu fahren ohne nochmal zu kontrollieren, dass man nichts hat liegen lassen. (Besonders keine verschwitzte Sportkleidung.)
Das habe ich meiner Mutter auch so geschrieben, dass ich wie gesagt vorher gesagt habe, dass ich nicht kann, und dass mir das mit den Klamotten leid tut, es keine Absicht war und ich in Zukunft sorgfältiger sein würde. Von ihr kam dann keine Rückmeldung mehr.
Ich denke, eine normale und gesunde Reaktion wäre, dass man wegen des ersten Vorwurfs etwas angepisst wäre und wegen des zweiten kurz ein schlechtes Gewissen hätte, dann sagt man beides und das Thema ist beendet. So funktioniert sowas bei mir aber nicht. Der Gedanke, dass ich jemanden wütend gemacht, verletzt, enttäuscht habe, da komme ich nicht mit klar. Ich habe Rot gesehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ritzen ist für mich die einzige Möglichkeit, um solche Situationen irgendwie aufzulösen. Wenn ich es nicht mache, hängt mir das wochenlang noch nach.
 
Fantasy.
Benutzer172046  Beiträge füllen Bücher
  • #15
Ritzen ist für mich die einzige Möglichkeit, um solche Situationen irgendwie aufzulösen.
Die Skills, die man in solchen Situationen hat, sind immer nur für Notfälle, also akut in dem Moment, in dem man sich selbst verletzen möchte und das Gefühl hat, man kann das jetzt nicht nicht tun.
Dass der Wunsch danach unterschwellig immer weiter da ist und nicht weggeht, dagegen helfen diese Skills nicht. Dafür brauchst du lange erarbeitete Strategien. Das Ziel ist nicht, dich nicht mehr selbst zu verletzen, das Ziel ist, es gar nicht mehr zu wollen/brauchen, solche Situationen gar nicht mehr aufkommen zu lassen oder schnell selbst auflösen zu können.
Die Fähigkeiten, die man dafür braucht - Resilienz, Ambiguitätstoleranz, Frustrationstoleranz, Emotionsregulation etc. - die muss man richtig einüben und lernen, und wenn man das während der Kindheit/Pubertät nie gelernt hat, holt man das im Erwachsenenalter mit viel Arbeit und Zeit und Mühe nach.

Und gerade deswegen finde ich die Diagnose Interaktionsstörung sehr passend und aussagekräftig, weil es bei der Behandlung dessen genau darum geht, solche Interaktionssituationen wie die mit deiner Mutter auseinanderzunehmen, die Dynamik dahinter zu verstehen und seinen eigenen Anteil daran realistisch (!) einschätzen zu können.

WIE hast du mitgeteilt, dass du an dem Tag nicht kannst? Wem hast du das gesagt, wann, in welchem Kontext, wie war die Person da gerade drauf, wie oft hast du das gesagt, wie weit im Voraus war das? Kannst du da eventuell etwas verbessern?

Abgesehen davon: Es war der Geburtstag deines Vaters, deine Mutter kann dein Verhalten richtig finden oder nicht, es ging bei der Feier nicht um sie, wenn dein Vater damit ein Problem hatte, hätte er dir das genauso gut selbst sagen können.

Und wie sagte eine Freundin meiner Mutter so schön, als sie zu Besuch war: "Immer, wenn die Kinder im Haus waren, bleibt irgendetwas irgendwo liegen, das gehört einfach dazu. Dann ist es immer schön, dass sie da waren, und schön, dass sie wieder weg sind, damit man wieder Ordnung hat."
Ist es toll, dass du die Sachen vergessen hast? Nein. Ist es total schlimm? Nein. Das passiert anderen Kindern auch oft genug.

Gerade schriftlich kommen Emotionen immer härter rüber, als wenn man telefoniert. Mit meiner Mutter schreibe ich fast gar nicht mehr, solange es nichts total Belangloses ist, weil für mich bei ihren Textnachrichten immer so ein ekelhafter Tonfall mitschwingt, der mich total unter Druck setzt. Wenn du also merkst, da ist gerade eine Situation, die emotional aufgeladen ist, ruf lieber an, um die Sache zu klären, wenn es geht.
Wie gesagt: Menschen verstehen, kann helfen. Deine Mutter war sowieso schon etwas genervt, weil du ihre (!) Erwartungen am Geburstag deines Vaters (!) nicht erfüllt hast, da war die vergessene Kleidung einfach nur der letzte Tropfen. Es war aber immernoch nur das: ein Tropfen.

Der Gedanke, dass ich jemanden wütend gemacht, verletzt, enttäuscht habe, da komme ich nicht mit klar.
Noch nicht. Auch das ist etwas, das man in der Therapie lernt - Konflikte aushalten lernen. Menschen werden schonmal sauer aufeinander und tun einander weh, das kannst du nicht vermeiden. Du kannst dich aber entschuldigen, du kannst daraus lernen, du kannst es nächstes Mal besser machen, und meist verzeiht einem die andere Person dann auch.
Deine Mutter spricht immer noch mit dir, ihr seid nicht auf alle Zeit zerstritten, in ein paar Monaten ist es vergessen und beim nächsten Geburstag gehst du die Dinge anders an und das Thema ist erledigt. Versuch, dich darauf zu konzentrieren.

Gerade solche Sachen lernt man einfach am besten zu verarbeiten, indem man sich dem immer wieder aussetzt und feststellt: es ist am Ende alles gut ausgegangen. Je gesünder und gefestigter die Beziehung zu jemandem ist, desto einfacher geht das, aber man muss nehmen, was man hat.

Ich bin mir ziemlich sicher, je mehr du dein eigenes Leben aufbaust und deine eigenen Leistungen sehen kannst, desto eher kannst du dich auch von deinen Eltern abgrenzen und deren Emotionen bei ihnen lassen.

Immer in dem Moment, in dem du das Gefühl hast, es ist irgendeine Situation vorgefallen und das belastet dich so stark, dass du dir wehtun möchtest - nimm dir den Moment, um durchzuatmen, und dann zerleg die Situation. Überleg dir, was du einem guten Freund sagen würdest, der dir das erzählt, schreib Tagebuch, ruf die Telefonseelsorge an. Versuch, eine gesündere Perspektive zu erhalten, weil deine Hirnchemie gerade alles rausfeuert, was geht, und du auf einer Überdosis Hormone bist, die dir nicht weiterhilft.
Auf sorgen-tagebuch.de kannst du auch Antworten von deinem Tagebuch erhalten, wenn du momentan merkst, dass du ein großes Mitteilungsbedürfnis hast, wäre das auch noch eine Option. Da braucht eine Antwort aber manchmal ein paar Tage. Auch andere Angebote wie beispielsweise von der Caritas oder Diakonie oder der Online-Kummerkasten oder der Chat der Telefonseelsorge sind Möglichkeiten, andere mal auf deine Gedanken draufschauen zu lassen und herauszufinden, wie realistisch die eigentlich sind.

Sich selbst therapieren zu wollen ist, wie seinen Ellbogen an die Nasenspitze halten zu wollen - anatomisch nicht möglich. Also sieh zu, dass du dir irgendwo Unterstützung holst, wenn nicht in der Therapie, dann über andere Angebote.

Du bist nicht deine Gefühle, du bist nicht deine Gedanken. Es gibt nie nur einen einzigen Weg, mit emotionalem Stress umzugehen.
 
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Kallin
Benutzer199610  Ist noch neu hier
  • Themenstarter
  • #16
Die Skills, die man in solchen Situationen hat, sind immer nur für Notfälle, also akut in dem Moment, in dem man sich selbst verletzen möchte und das Gefühl hat, man kann das jetzt nicht nicht tun.
Dass der Wunsch danach unterschwellig immer weiter da ist und nicht weggeht, dagegen helfen diese Skills nicht. Dafür brauchst du lange erarbeitete Strategien. Das Ziel ist nicht, dich nicht mehr selbst zu verletzen, das Ziel ist, es gar nicht mehr zu wollen/brauchen, solche Situationen gar nicht mehr aufkommen zu lassen oder schnell selbst auflösen zu können.
Die Fähigkeiten, die man dafür braucht - Resilienz, Ambiguitätstoleranz, Frustrationstoleranz, Emotionsregulation etc. - die muss man richtig einüben und lernen, und wenn man das während der Kindheit/Pubertät nie gelernt hat, holt man das im Erwachsenenalter mit viel Arbeit und Zeit und Mühe nach.

Und gerade deswegen finde ich die Diagnose Interaktionsstörung sehr passend und aussagekräftig, weil es bei der Behandlung dessen genau darum geht, solche Interaktionssituationen wie die mit deiner Mutter auseinanderzunehmen, die Dynamik dahinter zu verstehen und seinen eigenen Anteil daran realistisch (!) einschätzen zu können.

WIE hast du mitgeteilt, dass du an dem Tag nicht kannst? Wem hast du das gesagt, wann, in welchem Kontext, wie war die Person da gerade drauf, wie oft hast du das gesagt, wie weit im Voraus war das? Kannst du da eventuell etwas verbessern?

Abgesehen davon: Es war der Geburtstag deines Vaters, deine Mutter kann dein Verhalten richtig finden oder nicht, es ging bei der Feier nicht um sie, wenn dein Vater damit ein Problem hatte, hätte er dir das genauso gut selbst sagen können.

Und wie sagte eine Freundin meiner Mutter so schön, als sie zu Besuch war: "Immer, wenn die Kinder im Haus waren, bleibt irgendetwas irgendwo liegen, das gehört einfach dazu. Dann ist es immer schön, dass sie da waren, und schön, dass sie wieder weg sind, damit man wieder Ordnung hat."
Ist es toll, dass du die Sachen vergessen hast? Nein. Ist es total schlimm? Nein. Das passiert anderen Kindern auch oft genug.

Gerade schriftlich kommen Emotionen immer härter rüber, als wenn man telefoniert. Mit meiner Mutter schreibe ich fast gar nicht mehr, solange es nichts total Belangloses ist, weil für mich bei ihren Textnachrichten immer so ein ekelhafter Tonfall mitschwingt, der mich total unter Druck setzt. Wenn du also merkst, da ist gerade eine Situation, die emotional aufgeladen ist, ruf lieber an, um die Sache zu klären, wenn es geht.
Wie gesagt: Menschen verstehen, kann helfen. Deine Mutter war sowieso schon etwas genervt, weil du ihre (!) Erwartungen am Geburstag deines Vaters (!) nicht erfüllt hast, da war die vergessene Kleidung einfach nur der letzte Tropfen. Es war aber immernoch nur das: ein Tropfen.


Noch nicht. Auch das ist etwas, das man in der Therapie lernt - Konflikte aushalten lernen. Menschen werden schonmal sauer aufeinander und tun einander weh, das kannst du nicht vermeiden. Du kannst dich aber entschuldigen, du kannst daraus lernen, du kannst es nächstes Mal besser machen, und meist verzeiht einem die andere Person dann auch.
Deine Mutter spricht immer noch mit dir, ihr seid nicht auf alle Zeit zerstritten, in ein paar Monaten ist es vergessen und beim nächsten Geburstag gehst du die Dinge anders an und das Thema ist erledigt. Versuch, dich darauf zu konzentrieren.

Gerade solche Sachen lernt man einfach am besten zu verarbeiten, indem man sich dem immer wieder aussetzt und feststellt: es ist am Ende alles gut ausgegangen. Je gesünder und gefestigter die Beziehung zu jemandem ist, desto einfacher geht das, aber man muss nehmen, was man hat.

Ich bin mir ziemlich sicher, je mehr du dein eigenes Leben aufbaust und deine eigenen Leistungen sehen kannst, desto eher kannst du dich auch von deinen Eltern abgrenzen und deren Emotionen bei ihnen lassen.

Immer in dem Moment, in dem du das Gefühl hast, es ist irgendeine Situation vorgefallen und das belastet dich so stark, dass du dir wehtun möchtest - nimm dir den Moment, um durchzuatmen, und dann zerleg die Situation. Überleg dir, was du einem guten Freund sagen würdest, der dir das erzählt, schreib Tagebuch, ruf die Telefonseelsorge an. Versuch, eine gesündere Perspektive zu erhalten, weil deine Hirnchemie gerade alles rausfeuert, was geht, und du auf einer Überdosis Hormone bist, die dir nicht weiterhilft.
Auf sorgen-tagebuch.de kannst du auch Antworten von deinem Tagebuch erhalten, wenn du momentan merkst, dass du ein großes Mitteilungsbedürfnis hast, wäre das auch noch eine Option. Da braucht eine Antwort aber manchmal ein paar Tage. Auch andere Angebote wie beispielsweise von der Caritas oder Diakonie oder der Online-Kummerkasten oder der Chat der Telefonseelsorge sind Möglichkeiten, andere mal auf deine Gedanken draufschauen zu lassen und herauszufinden, wie realistisch die eigentlich sind.

Sich selbst therapieren zu wollen ist, wie seinen Ellbogen an die Nasenspitze halten zu wollen - anatomisch nicht möglich. Also sieh zu, dass du dir irgendwo Unterstützung holst, wenn nicht in der Therapie, dann über andere Angebote.

Du bist nicht deine Gefühle, du bist nicht deine Gedanken. Es gibt nie nur einen einzigen Weg, mit emotionalem Stress umzugehen.
Erstmal danke für deine ausführlichen Beiträge. Ich weiß das sehr zu schätzen, dass du dich mit meinen Problemen auseinander setzt und so ausführlich auf alles eingehst. Ich bin nicht so gut in schriftlicher Kommunikation (oder überhaupt im Kommunizieren), deshalb sage ich das nochmal separat: auch wenn ich nicht auf alle Punkte eingehe, ich lese alles und denke darüber nach und werde einiges davon mit in die Therapie nehmen und das da besprechen.
Das gilt auch für alle anderen Antworten hier: Danke. Ich bin echt dankbar, dass sich Leute die Mühe machen und mir antworten.

Ich bin im Moment krass überfordert. Wenn ich nichts zu tun habe, denke ich im Moment viel darüber nach, in welchen Situationen ich wie reagiere, und versuche zu verstehen, warum.
Das Unlogische ist: ich sage, ich fühle mich leer und emotionslos, gleichzeitig reagiere ich übermäßig auf so belanglose Dinge. "Ich will mich ritzen" ist ja kein Gefühl. Aber was ich da eigentlich genau genau fühle, weiß ich nicht.
Ich weiß, dass ich sehr krass auf Ablehnung, Wut und Vorwürfe reagiere. Es ist krass, wie sehr es für mich einen Unterschied macht, wie jemand etwas formuliert. Ich frage mich schon, ob das doch mit meinen Eltern zusammenhängt. Ich finde es schwer, weil es da nichts konkretes gibt, keine Misshandlungen, kein Trauma. Konflikte wurden in meiner Familie immer im Stillen ausgetragen. Es wurde nicht gebrüllt, Türen geschlagen oder Gewalt angewendet. Es wurde geschwiegen, man wurde lange wortlos angesehen, aufs Zimmer geschickt, ausgeschlossen. Wenn ich als Kind etwas falsch gemacht habe, wurde ich weitgehend ignoriert, es wurde nur das nötigste gesagt. Meine Mutter hat manchmal gesagt "Ich bin böse auf dich. Ich rede erst in einer Stunde wieder mit dir" und das hat sie dann auch durchgezogen und jegliche Ansprache ignoriert bis die Stunde rum war. Zu Ausflügen wurde ich dann einfach nicht mitgenommen oder mir wurde kein Eis mitgebracht oder so.
Alles sicher keine pädagogischen Glanzleistungen, aber auch nichts krass traumatisches. Für mich war als Kind scheiße, dass ich meistens nicht verstanden habe, was ich denn überhaupt falsch gemacht habe, weil mir wahrscheinlich einfach noch das Bewusstsein fehlte, um das einschätzen zu können. Es ist scheiße, wenn man bestraft wird und nicht mal weiß, wofür. Da lernt man auch nichts draus.
Mist war auch, dass meine Mimik oder mein Verhalten oder falsch verstanden wurde. Verwandte haben mich mal in einem Freizeitpark mitgenommen als ich so 12 war und ich wollte auf die meisten Sachen nicht drauf. Ich hatte viel Spaß dort und hab einfach gewartet und mich umgesehen während meine Cousins auf den Sachen waren, auf die ich nicht wollte. Aus meiner Sicht war das einfach: introvertiertes Kind hat einen tollen Tag und hat viele interessante Eindrücke gesammelt. Was aber bei meiner Tante ankam, war: Kind ist aus irgendeinem Grund trotzig und schmollt. Genau das wurde mir von meinen Eltern dann später vorgeworfen. Aus dem ursprünglich tollen Tag wurde so eine schlechte Erinnerung weil meine Art, Spaß zu haben, falsch war.
Oder meine Schwester hat einen Adventskalender bekommen und ich nicht, weil ich irgendetwas falsch gemacht habe. Scheiße war auch, als ich angefangen hab zu heulen weil mit wieder irgendwas vorgeworfen wurde (auch mit 12 ungefähr) und meine Schwester mit mir geredet hat und vorgeschlagen hat, dass wir ins Kino gehen damit ich mal an was anderes denke, und mein Vater meinte, sie solle mich nicht auch noch dafür belohnen, dass ich trotzig bin.
Ich komme mir dumm dabei vor, das zu schreiben, weil ich schon objektiv erkennen kann, dass das keine schlimmen Situationen sind. Kommunikation ist nicht immer leicht und es ist nachvollziehbar, dass Eltern mal genervt sind und Dinge falsch verstehen oder einfach keine Energie haben, um irgendwas zu analysieren und das naheliegenste tun/denken. Es ist nur einfach ungünstig, wenn man dann so ist wie ich und das (noch) nicht differenzieren kann und alles persönlich nimmt.
 
Fantasy.
Benutzer172046  Beiträge füllen Bücher
  • #17
dass das keine schlimmen Situationen sind
Es gibt mehr als eine Art von Gewalt. Gewalt muss nicht immer physisch sein.
Emotionen nicht anerkennen oder sogar ganz explizit aberkennen, Emotionen nicht spiegeln (wie weißt du, dass das, was du gerade fühlst, traurig sein genannt wird? man sagt es dir... oder man sagt es dir nicht und du kannst es nicht einordnen), keine emotionale Sicherheit/Vorhersehbarkeit bieten... all solche Dinge können auch traumatisch sein. Kennst du den Begriff silent treatment? Eigentlich ist es nur ein psychologisches Wort für ignoriert werden, aber es verdeutlicht, dass es ein Verhalten ist, das einen eingehenden Effekt auf eine andere Person hat.
Ich finde Beiträge dieser Person hier oft hilfreich, weil sie tatsächlich sehr kurz und bündig einordnet, welche Verhaltensweisen aus der Kindheit später bei Erwachsenen welche Konsequenzen haben.

Ich bin nicht so gut in schriftlicher Kommunikation
Falls es dich aufmuntert: Vor etwa acht Jahren konnte ich eine Konversation nicht länger als drei Sätze lang aufrechterhalten. Inzwischen fällt mir das leichter, auch wenn ich noch immer viele Fehler mache. Kommunikation kann man lernen.
 
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